Sehnsucht. Jetzt. (Mk 7 31-37)

Sehnsucht / ich will raus /aus diesem Leben
in wem steckt er nicht, dieser Schrei
raus aus dem Alltag
seinen Regeln
seinen Unveränderlichkeiten
seiner Ungerechtigkeit
seiner Kälte

Gott ist Leben
in dieser Zeit und in Ewigkeit

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Jesaja 42,3

***
Drei Begegnungen fallen mir ein.

Es ist früher Vormittag, ich muss zum Friseur. Alle vier Wochen muss das schon sein, sonst falle ich aus dem Rahmen.
Hier zumindest.

Der Friseur, ein Mann mit perfekt gestutztem schwarzen Vollbart und Lachfalten an seinen Augen, kennt mich inzwischen schon ein wenig. Er weiß, dass ich Familie habe und Pfarrer bin.

Und heute erzählt ER beim Schneiden.
Von seiner Frau, seinen drei Kindern. Dass er schon seit drei Jahren hier arbeitet und keine Langeweile hat. Dass er von seinem Chef regelmäßig und pünktlich sein Geld bekommt. Was ja nicht selbstverständlich sei. Und dann auch gut Trinkgeld – besser als hier sei es ihm noch nicht gegangen.

Nur soll im Dorf niemand wissen, WO er arbeitet. Auch Frau und Kindern erzählt er das nicht. Er fährt morgens einfach mit dem Fahrrad „zur Arbeit in die Stadt“. Mehr muss niemand wissen.

Ein anderer Tag, und es ist auch nicht mehr Vormittag, sondern früher Abend. Ich habe Hunger und denke, dass ich mal in die Oase gehen könnte – der Tag war heiß, ein frisch gezapftes Bier und ein ungesundes Steak mit Pommes kämen mir jetzt gerade recht.

Ich scheine noch sehr früh dran zu sein, die Tische sind alle leer, ich habe also freie Wahl. Bedient werde ich gleich. Auch ein Mann, den ich schon länger kenne und mit dem ich öfter schon geschwatzt habe. Auch er mit schwarzem Vollbart. Aber, denke ich, er könnte auch mal zu meinem Friseur gehen, das würde ihm gut zu Gesicht stehen.

Der erste halbe Liter Bier kommt schnell, die Bedienung setzt sich zu mir an den Tisch. Es ist ja auch immer noch niemand da außer mir. Er weiß, dass ich in dem kleinen Aufsichtsgremium für die Oase mitarbeite. Wir haben uns schon öfter mal unterhalten, wenn es Schwierigkeiten im Team gab, und ich habe auch schon mal helfen können.

Na, gibt es Ärger? frage ich. Nein, sagt er, alles gut gerade. Ob seine Familie eigentlich auch nicht weiß, wo er arbeitet?
Nein nein, sagt er, fast erschrocken. Besser so!

Er lebt und arbeitet jetzt seit fünf Jahren hier in der Stadt. Sein Viertel sei ziemlich dreckig, kein Wunder, schließlich würden die Häuser da viel schneller gebaut als die Abwasserleitungen. Aber es sei ruhig und friedlich, sogar ein paar Gärten und ein wenig Grün, viel besser als in der anderen Stadt im Norden, in der er vorher lebte.

Und er hoffe ja, dass das noch lange so bleiben würde. Vor allem, weil er sich eben endlich einmal sicher fühlen würde. Er, seine Freunde, seine Familie.

Aber das könne sich ja auch leider wieder ändern: Falls die ausländischen Soldaten doch einmal wieder abziehen sollten, könne es ganz schnell passieren, dass wieder die alten Verhältnisse zurückkämen. Und dann sei es für alle besser, wenn nur möglichst wenige wissen, dass er hier gearbeitet hätte.

Ein paar Wochen später. Ich begleite eine junge Ärztin, mit der ich mich angefreundet hatte, in ein Hospital in einem anderen Bezirk der Stadt. Da fährt sie einmal die Woche hin, immer mittwochs, wenn sie mit ihrer Arbeit schon zu Mittag fertig ist. Natürlich immer auf einem anderen Weg, man weiß ja nie.

Ihr Ehrenamt, sagt sie, der Chef wüsste aber Bescheid und hätte nichts dagegen, im Gegenteil.
Dann ist sie mindestens sechs Stunden hier im Hospital, operiert mit Gerätschaften, die aus einem stillgelegtem Atom-Bunker in Westdeutschland hierher gebracht worden waren. Alles zwar alt, aber noch funktionstüchtig und gut zu gebrauchen. Und hier lohne sich ihre Arbeit ganz besonders.

Der Weg zum Haus mit den Operationssälen führt durch einen üppig grünen Gemüsegarten. Vor ein paar Jahren wurde hier ein Brunnen gebohrt und ein großer Wassertank aufgestellt. Es muss hier also gar nicht alles so grau aussehen, denke ich. Nur Wasser auf die richtige Stelle, und die Stadt wird wieder grün.

So wie auf den unglaublichen Postkarten aus den 70ger Jahren. Wenn da nicht „Greetings from Kabul“ draufgedruckt gewesen wäre, hätte ich nie geglaubt, dass hier einmal etwas anderes gewesen war als Wüste und Ruinen.

Die Ärztin trifft auf einen Mann mit seiner Tochter. Ihr Bein ist bis zum Oberschenkel im Gips. Wenn Frau Doktor nicht gewesen wäre, wäre seine Tochter gestorben, erzählt der Vater froh. Die Tochter war auf eine Mine getreten, Frau Doktor hätte ihr das Leben gerettet. Und nicht nur das: Wenn der Gips in ein paar Wochen abkäme, könne seine Tochter vielleicht sogar wieder ganz normal laufen – inshallah, so Gott will.

Drei Begegnungen, alle im Sommer 2005.
Doch gerade habe ich das Gefühl, als sei das erst gestern gewesen. Das ist wohl so, weil man in den letzten Tagen weder Radio noch Fernseher einschalten konnte, ohne aus Afghanistan zu hören.

Aus diesem fernen, fremden, bettelarmen Land in Asien.
Mit dem Auto von Berlin aus 6683,1 km über die A 77 (wo die auch immer ist), meint Google.
Direkt am Kabul International Airport vorbei.
Ich glaube aber nicht, dass ich da im Augenblick sein möchte.

Andere Begegnungen.
Nicht ganz so weit weg, aber auch im Ausland.
Dafür länger her. Viel länger.

Markus erzählt, dass Jesus mit seinen Jüngern das jüdische Stammland verlässt und durch das Gebiet der Dekapolis geht.
Das ist griechisch und bedeutet „Zehn Städte“.

Das ist zwar Ausland für Jesus, aber er ist hier inzwischen auch kein Unbekannter mehr. Nicht unbedingt, weil er Jude ist und damit eine andere Religion hat als die Leute hier.

Wohl aber, weil ihm ein besonderer Ruf vorauseilt.
Die Leute haben gehört, dass Jesus Wunder wirken und auch schwere Krankheiten heilen kann. Sie kommen ihm daher voller Erwartung entgegen. Sie bringen einen Kranken zu ihm. Jesus ist zwar Ausländer und hat einen für sie fremden Glauben. Aber vielleicht ließ er sich ja dennoch bitten.

Der Kranke konnte nicht hören, wahrscheinlich von frühester Jugend an, denn er konnte auch nicht wirklich sprechen. Es war jedenfalls kaum zu verstehen, wenn er zu reden versuchte.

Und wenn SIE das schon kaum verstehen konnten, um wieviel mehr dann Jesus, der ja Ausländer war. Also ergreifen sie für den Kranken das Wort: Bitte, Jesus, leg ihm deine Hände auf. Das wird ihm gut tun. Und vielleicht wird es danach besser mit ihm.

Jesus ließ sich nicht lange bitten, auch in SEINEM „Auslandseinsatz“ nicht. Normalerweise hätte er mit dem Kranken erst einmal gesprochen, auch über seinen Glauben an Gott. ihn schließlich gefragt, was er denn für ihn tun könne.

Natürlich konnte sich Jesus denken, dass Kranke vor allem zuerst gesund werden wollen. Aber Jesus weiß auch, dass es wichtig ist, dass der Kranke diesen Wunsch auch ausspricht, ausspricht, was er will. In der Medizin ist man sich heute sicher: Wenn einer diesen Wunsch nicht hat, ist der Weg zur Heilung ungleich komplizierter, vielleicht sogar verbaut.

Das aber war hier aus drei Gründen schwierig.
Erstens der unterschiedlichen Sprache wegen,
zweitens der Tatsache wegen, dass der fast stumme Mann ihm hätte schwerlich einfach antworten können,
und schließlich der Gottesfrage wegen: Denn der Gott Israels spielte in diesem Landstrich keine Rolle.

Darum handelt Jesus, ohne viel zu reden. Er nimmt den Kranken erst einmal heraus aus der Menge. Zieht sich zurück mit ihm, weg von den vielen Menschen an einen ruhigeren Ort. Niemand wird gern vor einer Zuschauermenge vom Arzt behandelt; das Verhältnis Arzt-Patient ist eben eine ziemlich intime Angelegenheit.

Dann legt Jesus seine Finger in die Ohren des Mannes.
Nimmt von seinem Speichel und berührt damit die Zunge des Kranken.
Jesus sieht in den Himmel, atmet mehrfach tief und hörbar, und sagt schließlich nur ein Wort in seiner Muttersprache:
Effatá! Öffne dich!

Da öffnet sich der Kranke tatsächlich, mit ihm öffnen sich seine Ohren, löst sich seine Zunge, und er konnte sogar reden ohne zu stammeln.

Als er dann wieder zu den vielen Menschen kommt, waren die außer sich vor Staunen. Gut ist alles, was er tut, sagen sie. Er gibt sogar Tauben das Gehör und Stummen die Sprache zurück. Der Ruf, der Jesus vorauseilte, hatte sich bestätigt, das hätten sie sich nicht träumen lassen.

Doch dann meinte Jesus zu ihnen, dass es besser sei, das sie niemandem etwas davon erzählten. Nur einen guten Grund dafür, den sagte er ihnen nicht. Er hätte sich also denken können, dass das nicht funktionieren würde. (Nachzulesen Mk 7 ab V 31)

Und was machte es überhaupt für einen Unterschied, ob man darüber redete oder nicht?
Dass ein Taubstummer wieder hören und reden konnte, nur nachdem er Jesu Finger in den Ohren, seinen Speichel auf der Zunge und das Wort „effatá“ zu hören bekommen hatte: Wer würde das schon glauben?
Und würde die Welt denn jetzt besser sein, nur will ein Mensch weniger krank war? Und das auch nur für den Augenblick, bis zu seiner nächsten Krankheit?

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Ein Bild der Sehnsucht für die Menschen.
Dass das, was Schaden genommen hat,
nicht auch noch zerstört wird.
Dass die letzte Kraft reicht
und einem die nicht auch noch genommen wird.

Weil sich dieses Leben doch lohnen soll.
Für den Moment wenigstens, JETZT.
Für den Moment, von seiner Hände Arbeit leben können.
Dass Arbeit sich besonders lohnt.
Für den Moment, über die Straße gehen zu können ohne Angst haben zu müssen.
Für den Moment, in die glücklichen Augen des Menschen neben sich sehen zu können.
Für den Moment, überlebt zu haben.
Für den Moment des Glücks.

Aber sie sagen:
Immer will ich von meiner Hände Arbeit leben können.
Immer will ich über die Straße gehen können ohne Angst haben zu müssen.
Immer soll der Mensch neben mir glücklich sein.

Dann würde es sich lohnen, das Leben.
Sagen sie.
Und fragen:
Hat es sich gelohnt, für zwanzig Jahre Militär nach Afghanistan zu schicken?
In ein Land, indem Männer (die bekanntlich ja kürzer leben als Frauen) im Mittel 43,12 Jahre alt werden?

Also – hat es sich gelohnt, nur für den Moment? Wenn sie am Ende nicht einmal gelernt haben, wofür sie kämpfen sollten? Wenn sie sich müde – kriegsmüde… – einfach wieder unterkriegen lassen? Lohnt es sich, sich einzumischen, und dann auch noch im Ausland? Wo den Menschen nichts von dem heilig ist, was einem hier heilig ist (oder zumindest sein sollte)?

Gott sieht die Menschen und ihre Hoffnung auf den Moment.
Jesus sieht den Kranken und seine Hoffnung auf Besserung.
Gott handelt. Jesus handelt.
Liebe im Augenblick. Heilung jetzt.
Für den Moment.

Die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes:

Sie bergen die Hoffnung,
dass das Leben sich lohnt.
Jetzt.
Ewig.
AMEN.

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