Ich lese aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 8, ab Vers 31:
… Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
34 Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
…
38 … ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Einer der stärksten Texte des Paulus. Kaum weniger bekannt als Psalm 23. Oder die Weihnachtsgeschichte nach Lukas. Nicht nur Jahr für Jahr zu Silvester gelesen, weil er in unserer Gottesdienstordnung als Episteltext einfach dazugehört. Kaum eine christliche Beerdigung, auf dem er nicht gelesen würde.
Zu Recht, gehört er doch zu den Trutz- Texten gegen den Tod, der uns Lebende von denen trennt, die wir lieben. Wenn uns nicht einmal der Tod von der Liebe Christi trennen kann, verbindet uns diese Liebe auch durch den Tod hindurch mit denen, die wir aus diesem Leben lassen müssen.
Stärke und Schönheit dieses Textes haben meine Frau und mich schon immer fasziniert. Darum ist er auch unser Trauspruch geworden. Zum Schrecken für Pfarrer Thomas Passauer, der uns in Brielow getraut hat. Denn der musste wohl zum ersten Mal in seinem Dienstleben diesen Text vom Ende des Menschenlebens in dessen Mitte rücken.
Was wir ihm damals damit zugemutet haben, ahnten wir gar nicht. Denn wir haben Jahre VOR unseren ersten selbst gehaltenen Beerdigungen geheiratet. Darum haben wir ihn wohl unvoreingenommener lesen können. Anders als ein Pfarrer, der schon viele Dienstjahre hinter sich hat.
Wir haben für uns gehört: Die Liebe Gottes zu uns beiden kennt kein Ende. Gott redet zu uns wie eine Mutter, wie der beste Freund. Gott sagt: Egal, was kommen wird, egal, was die anderen sagen oder tun, egal, wie dick es kommen wird – ICH halte sowieso zu euch!
Das fanden wir so schön, dass wir es am Traualtar neu hören wollten. Gott hält sowieso zu uns! Egal, was wir uns je zuschulden kommen lassen, ungeschützt, ohne Wenn und Aber.
Jetzt. Immer.
Heute, nach über 25 Dienstjahren und manchmal 50 Beerdigungen pro Jahr, kann ich die Paulusworte in der Lutherfassung auswendig. Aber genau da liegt die Gefahr. Der Text droht, kalt zu werden. Aus flüssiger Lava zu vulkanischer Schlacke. Aus Glut zur Asche.
Wie VIELE Texte, die die Kirche oft, zu oft, liest und hört. Jede Überraschung ist doch längst dahin, wenn wir am Heiligen Abend 2015 zu hören bekommen werden: Euch ist heute der Heiland geboren!
Und mit der fehlenden Überraschung schwindet auch die Größe. Aus freimachender Botschaft wird bestenfalls eine kleine Erinnerung, aus dem Buch der Bücher ein Zettelchen unter einem Magneten an der Kühlschranktür. Auch wenn die Christvesper wieder gut besucht sein wird: Vom Stuhl reißen wird das auch 2015 kaum noch jemanden.
Sören Kierkegaard, der lebenslang umgetrieben war auf der Suche nach der freimachenden Wahrheit des Glaubens, hat dieses Problem von Kirche in einer Geschichte auf den Punkt gebracht:
Ein Mann kommt mit einem Wäschebündel zu einem Geschäft, über dessen Eingang steht: Hier wird Wäsche gewaschen und gebügelt. Er tritt ein. Der Verkäufer aber sagt zu ihm: Sie irren sich. Hier werden nur Schilder hergestellt mit der Aufschrift: „Hier wird Wäsche gewaschen und gebügelt!“
Wohin wird er danach gegangen sein mit seinem Wäschebündel?
Wie können wir uns davor schützen, nur noch Schilder herzustellen? Tradition ist doch das Aufbewahren der Glut, nicht das Weitergeben von Asche. Wie können wir unsere Glut über die Zeit retten?
Uns allen, egal ob Redner oder Hörer, bleibt wohl kein anderer Weg, als zu versuchen, zur hören, als sei es das erste Mal. Das alte Foto aus dem Schuhkarton zu nehmen, es anzusehen und die Zeit zurückzuspulen. Den Moment zurückzuholen. Bilanz zu ziehen.
Zu erinnern, was war, bevor der Alltag kam. Vielleicht auch mit ihm zu streiten, mit dem „Alltag“. Im die Existenz abzusprechen. Dich gibt es gar nicht! Kein Tag gleicht einem anderen! Du wirst uns nicht stumpf werden lassen! Du nicht! Das kann anstrengend werden, aber auch helfen.
Kaum ein Tag ist dazu besser geeignet als dieser. Denn heute ist kein Alltag. Nicht nur der 53. Mittwoch im 2014ten Jahr nach Christi Geburt. Nicht einfach Tag der größten Freiluftparty Deutschlands.
Es ist der letzte Tag unserer Kalender für 2014, der letzte Dezembertag, der letzte Abend des alten Jahres. Sicher haben wir diesen Tag selbst erfunden. Denn wenn Gott will, wird auch dieser Tag nicht der letzte sein. Gibt es auch heute ein Morgen. Findet auch der Kalender 2015 einen Platz in unserem Leben. Wird auch 2015 Silvester feiern.
Aber wir haben ihn nicht ohne Not erfunden. Wir brauchen ihn zur Übung. Wir üben das Zurückschauen. Wir üben das Trennen. Wir üben das Planen. Das Anhalten. Die Unterbrechung. Wir üben Bilanz unseres Lebens.
Wer an diesem Altjahrsabend zurückschaut auf sein persönliches Jahr, wird einen Blick bekommen für unser schönes und doch ständig bedrohtes Leben.
Dass an seinem Ende unausweichlich das Sterben steht, lässt uns leiden. Aber genau das macht letztlich die Faszination unserer Lebenszeit aus.
„Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist…“
Wie gut, auch wenn mancher/ es manchmal gern anders hätte. Wenn wir Bilanz üben, wird uns das deutlich: Dass jeder unserer Tage bedroht ist, macht ihn kostbar.
Niemand würde etwas so heiß begehren, wenn man es einfach so haben könnte. Wenn man es sich nur nehmen könnte, wenn man nur wollte. Niemand kann sich einen Tag dazunehmen, so sehr er sich auch mühte.
Wer heute auf den Lauf der Welt im letzten Jahr sieht, der ahnt sehr wohl etwas von den Mächten und Gewalten. Auch wenn sie nicht mehr in die Welt- Sicht der meisten Menschen passen. Mächte gehören für sie ins Mittelalter, Gewalten in den Sturm auf Hoher See oder den Tsunami am anderen Ende der Welt.
Und doch sind wir nicht Herr unserer Tage, und doch scheinen unsere Tage an sie ausgeliefert zu sein. Die Macht des Todes, wie Gewalt des Unvorhersehbaren droht uns mit Trennung. Trennung von dem, was uns liebt und teuer ist.
Auch wenn „Verfolgung“, „Hunger“ oder „Schwert“ nicht das ist, was unmittelbar unser Leben ausgemacht hat: Die Situation unserer Welt kennzeichnen sie. Nicht umsonst sind die Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in unserem Land kurz vor der Überfüllung.
Darum spürt wohl jeder von uns: Egal, welche Last man persönlich aus dem vergangenen Jahr in das neue weiterzutragen hat- unsere Solidarität ist und bleibt gefragt. Solidarität, in der auch Christen in dem reichen Norden mittragen an der Last der Unerlöstheit, die auf Gottes Schöpfung liegt.
Und damit sind wir mitten drin in der Gemengelage der „Mächte und Gewalten“. „Beschuldigung“, „Verdammung“ und „Gericht“ werden zu Worten, die unsere Existenz treffen.
Die UNS treffen. UNSER Leben bedrohen. UNSER Bündel sind, zusammengeschnürt auf UNSERER Suche nach dem, der es uns abnimmt und in Ordnung bringen möge.
Einmal Waschen und Bügeln bitte. Nein danke, das Schild kann ich nicht brauchen. Das hilft mir nicht. Wo kann ich denn hingehen, wo mir geholfen werden kann?
JESCHUA: „Gott ist Rettung“. Gott hilft selbst. Jesus ist geboren. Sein Fleisch, sein Blut, sein Geschenk an uns. Seine Liebe, mächtiger und gewaltiger/ als die Mächte und Gewalten.
Mitten in das große Drama jedes einzelnen Menschen- Lebens tritt Gott selbst. Wer meinte, mit allem allein fertigwerden zu müssen, kann sich heute eines Besseren belehren lassen.
Liebe, die große Sehnsucht des Menschen, meine Sehnsucht. Die Liebe zu meinen Nächsten, zu meinen Tagen, zu meinem Leben: Ich muss sie nicht aus mir selbst holen.
Jesus liebte mich ja schon, „da ich noch nicht geboren war“. Er hat genug Liebe für mich. Selbst durch Kreuz und Tod hindurch im Überfluss. Ein Überfluss, der mir nutzt, weil ich ihn weitergeben kann.
Aus diesem Überfluss kann ich jeden Tag lieben, den ich erleben darf, weil ich ihn durch Gottes Augen sehe. Er wird mich überwältigen. Denn es wird kein All- Tag sein, sondern Mein – Tag. Noch nie gesehen, voller Wärme, voller Überraschung, Gottes Geschenk an meine Zeit.
Hat Gott uns in Christus nicht alles gegeben? Ist Jeschua nicht alles, was wir je brauchen?
Wenn er Recht spricht, wer kann eine Schuld haben, die Bestand haben könnte? Wenn Gott die Liebe selbst ist: Was soll kommen können, was mir den Raum zum Lieben nehmen könnte?
Meine Schwestern, meine Brüder:
Hier geht es nicht um Schilder. Es geht um die Verantwortung für das Leben. Es geht um uns, um mich und dich. Hier geht es um alles.
Denn unsere Vergangenheit ist nicht einfach ein abgelaufenes Stück Zeit. Egal, was die Einzelnen unter uns erlebt haben oder erleben mussten: Unsere Vergangenheit trägt Schuld, die das Atmen schwer macht und den Rücken beugt.
Und unsere Zukunft ist ebensowenig einfach nur ein vor uns liegendes kürzeres oder längeres Stück Zeit. Unsere Tage im Neuen Jahr können Höhen, aber auch Tiefen bringen. Es kommt sehr wohl auch darauf an, was wir daraus machen wollen. Und die Bilanz wird das schließlich deutlich machen.
Aber wir leben unter dem, was die Mitte unseres Textes ist: Aus der Geburt des Jeschua, der uns die Augen dafür öffnen wird, wie groß die Lust Gottes an uns Menschen ist. Wir leben aus seinem Kreuz und seiner Auferstehung. Er ist der, der uns unser Bündel abnimmt und in Ordnung bringen wird.
Und das bedeutet einen Machwechsel. Wir können uns lösen aus dem Machtbereich der Mächte der Welt. Wir können leben im Machtbereich des Auferstandenen.
Egal was kommt, Gott hält sowieso zu uns. Am Tisch des Herrn kann jeder erleben, was das bedeutet. Jeder kann hier Teil der Macht Gottes werden.
Diese Macht schafft Gottes Frieden, der größer ist als all unsere Vernunft. Er wird unsere Leiber und Seelen bewahren in Christus Jesus.
An jedem Tag des Neuen Jahres.
AMEN
Der Reformierte Kirchenkreis erprobt in diesem Kirchenjahr die neue Predigtreihe 4. Informationen dazu gern bei mir.