Sündige hinfort nicht mehr (Joh 8 3-11)

Urteile
das ist gut
das ist verwerflich
Urteile gehen leicht über Menschen-Lippen

DAS Urteil aber liegt allein bei Gott
Seine Gerechtigkeit öffnet uns
Augen und Herzen
allein SEINE Liebe ist es
die Vergebung und Leben schafft
wir können nicht mehr tun
als das

Einer trage des andern Last,
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
(Gal 6,2)
***

Was eine Ehe IST, meinen irgendwie alle genau zu wissen. Doch was sie WAR, über die Jahrtausende hinweg, dazu muss man sich schon durch lange Lexikonartikel hindurchlesen. Die Geschichte der gesetzlichen Regelungen zur Beziehung zwischen Menschen ist lang und wechselhaft.

Grundsätzlich ist eine Ehe wohl immer auf Lebenszeit angelegt gewesen. Grundsätzlich aber ist Juristensprache und bedeutet, dass es Ausnahmen vom Grundsatz geben kann.

Ob die Ehe zwischen EINER Frau und einem Mann oder zwischen MEHR als zwei Menschen oder zwischen Frau und Frau und Mann und Mann geschlossen werden kann, all das änderte sich im Wandel der Zeiten.

Genauso, ab welchem Alter man heiraten durfte oder wer zu einer Ehe seine Zustimmung geben muss. Wer weiß schon heute noch, dass hierzulande bis ins späte Mittelalter weit über die Hälfte der Menschen gar nicht heiraten durfte, weil es ihnen von Grund- oder Gutsbesitzern sowie von Magistrat, Gilde oder Zunft nicht gestattet wurde?

Wer weiß schon heute noch, was die Standesbeamten der DDR- Zeit zu lesen und zu beachten hatten? In der „Grundkonzeption der Ansprache an Hochzeitspaare“ fanden sich folgende Zeilen:

„[…] außerhalb der sozialistischen Welt kann niemand Glück genießen. Unser Glück […] wächst in sozialistischen Werken und Familien. Wir warnen vor bürgerlicher Eheführung, Ausbeutung als Ehegrundlage führt zu Treulosigkeit des Mannes und Charakterverderbtheit der Frau. […] Religion als Schutz der Ehe versagt wegen der Ohnmacht der Kirchen und auf Grund des Nichtvorhandenseins Gottes und der Missachtung des Erdenlebens sowie wegen der Unmoral jener Kirchenführer, die den Krieg als Regierungsmittel Gottes bejahen […]“ (Wikipedia).

Wie gut, dass meine Frau und ich das nicht wussten. Sonst hätten wir vor gut 39 Jahren wahrscheinlich nicht geheiratet. Doch wir beide wollten einfach gemeinsam leben, uns das vor dem Gesetz des Staates versprochen haben und den Segen unserer Kirche darüber empfangen. Wir hatten also ein durchaus PERSÖNLICHES Verständnis von Ehe, das mit dem staatlichen Verständnis offenbar nicht viel zu tun hatte.

WAS die Ehe letztlich ist, hängt also NICHT nur an Regeln und Gesetzen, sondern an den Menschen, die eine Ehe miteinander eingehen, und den Glauben, den sie haben. Ist man beispielsweise katholisch, ist die Ehe ein Sakrament und gottgewollt – ist man evangelisch, ist sie eine Institution des Staates und die Trauung eine kirchliche Segenshandlung.

Es ist daher auch mit der Ehe deutlich komplizierter als mancher heute denkt, und das macht es nicht einfacher, den Text zu verstehen, der heute Predigttext ist. Ich lese aus Johannes 8 ab Vers 3:

Die Schriftgelehrten und die Pharisäer (brachten) eine Frau… und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?
Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.

Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau …

Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen. Was meint das? Jesus fragt nicht danach. Offenbar ist ihm das nicht wichtig. Denn er erkennt, dass es darum ganz offenbar nicht geht. Seine Gegner wollen ihn auf Kosten dieser Frau hinters Licht führen. Sie stellen sie als Schuldige in die Mitte eines Kreises.

Jesus aber geht es nicht um Urteil, Vorurteil oder Verurteilung. Niemand ist ohne Sünde. Auch in der Ehe nicht. Also verdamme ich dich auch nicht. Gehe hin. Und: Sündige hinfort nicht mehr.

Das hatte Jesus auch schon dem Kranken gesagt, den er am Teich Bethesda geheilt hatte. Der seit achtunddreißig Jahren krank dalag. Sündige hinfort nicht mehr.

Wie kann Jesus das meinen? Kann man denn leben, ohne „zu sündigen“, oder wird man nicht an jedem Tag neu schuldig? Wird der gerade Genesene dann wieder krank, die gerade nicht Verdammte doch verdammt?

Einer meiner Lieblingsfilme kommt aus Schweden und heißt nach einer Bitte des Vaterunsers „Wie im Himmel“. Er beschreibt Menschen in einem Dorfchor, die erleben, wie liebevoller Umgang miteinander das Lebens-Unglück Einzelner aufbricht
und sie zu einem neuen Leben führt. „Wie im Himmel“ – die Liebe lässt diese Menschen in den Himmel sehen.

Ein einer Szene wirft eine Pfarrfrau ihrem Mann vor: „Die Kirchen haben aus der Sexualität eine Sünde gemacht!“ Sie sagt das, nachdem über 20 Ehejahre ihr klar gemacht haben: Für ihren Mann, den Pfarrer, sind Sünde und Sexualität völlig ineinander verwoben, ja förmlich dasselbe. Das führt dazu, dass selbst die Sexualität in seiner eigenen Ehe ihm so auf die Seele schlägt, dass er sie als Last empfindet und kaum noch zu tragen vermag.

Im weiteren Verlauf des Filmes verlässt sie ihren Mann, den sie dennoch über alles liebt. Und der Film lässt offen, ob die beiden irgendwann einen Neuanfang miteinander wagen werden oder ob ihre Ehe daran zerbricht.

Diese Frau – wäre sie so vorgeführt und in die Gefahr der Steinigung geraten wie die Frau, die in unserem Predigttext vor Jesus geführt wird? Und würde über die Rolle, die ihr Mann bei dieser Trennung spielt, genauso wenig gesprochen wie hier?

Weitere Beziehungsschicksale fielen mir ein.
Eine Frau, die den Vater ihres Sohnes heiratete mit dem Vorsatz, ihn durch gelebte Liebe für sich zu gewinnen – und die ihren Mann schließlich doch verließ, als sie sich nach fast zwei Jahrzehnten eingestehen musste, dass der liebesunfähig war und dass sie daran nichts würde ändern können.

Oder eine Frau, deren Mann nach 22 Ehejahren alkoholkrank wurde und die sich irgendwann von seinem behandelnden Arzt sagen lassen musste: Wenn sie ihm immer wieder verzeihen, seine Schläge hinnehmen, ihn aus seinem Erbrochenen herausziehen und ihn zu entschuldigen suchen, kommt er da nie heraus: Verlassen sie ihn!

Je älter ich werde, je mehr Menschen ich in ihren Beziehungen kennen lerne, desto sicherer bin ich mir: Dass unsere Rechtsprechung die Schuldfrage bei Scheidungen abgeschafft hat, ist richtig. Denn „Hauptschuldig am Scheitern der Beziehung“ – diese Feststellung KANN kein Mensch treffen, ohne selbst schuldig zu werden.

Meinten die Ankläger vor Jesus damals wirklich, die Frau beim Vollzug des Ehebruches „auf frischer Tat“ ertappt zu haben? Was genau sollte das gewesen sein? Ist es nicht die größere Sünde, dass die Todesstrafe hier überhaupt in Erwägung gezogen werden darf, und das schon wegen des Scheiterns einer Ehe? Nur weil Mose das geboten haben soll? Wären die beteiligten Männer eigentlich unbefragt geblieben?

Sind es genau besehen nicht einmal die Menschen, sondern vielmehr deren psychischen Sperren oder gar Krankheiten, die Lebensbeziehungen scheitern lassen, also „Schuld“ am Ehebruch sind?

Und es leiden nicht nur Frauen. Die Frau eines jungen Mannes wird arbeitslos. Sie bewirbt sich bundesweit und bekommt ganz im Westen der Republik einen neuen Job. Der Mann sagt: Gut, ziehen wir dahin – ich muss eh noch zum Bund und wollte sowieso mindestens vier Jahre da bleiben- dann kann ich ja auch da damit beginnen. Die Warnungen seiner Mutter über die krankhafte Eifersucht seiner Frau hört er zwar, bleibt aber optimistisch: Wir werden das schon schaffen.

Beide ziehen nach Stuttgart, ihre Eifersucht bringt ihn in ernste Schwierigkeiten. An einem Wochenende fährt er allein nach Haus zu seiner Mutter, um etwas Abkühlung in seine Beziehung einkehren zu lassen. Sie wohnt in einem Dorf im EE- Kreis.

In der Nacht dann klingelt ihn sein Telefon aus dem Schlaf. Seine Frau erklärt ihm: Wenn Du jetzt nicht zurückkommst, nehme ich das Rattengift, das ich mir gekauft habe. Er springt mitten in der Nacht ins Auto, verunfallt schon auf der A 13 tödlich und verbrennt bis zur Unkenntlichkeit.

Als sein Kompaniechef und ich seiner Mutter die Todesnachricht überbrachten, konnten wir ihr nur sagen, dass die verkohlte Leiche SEHR WAHRSCHEINLICH ihr Sohn ist und dass das erst nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung ganz klar sein würde.

Es bleiben schwerwiegende Fragen: Kann es richtig und gottgewollt sein, dass Menschen in ihren Lebens-Beziehungen nicht gestärkt und aufgehoben sind, sondern leiden, Unglück erleben oder gar sterben? Was heißt denn da „sündige hinfort nicht mehr“?

Jesus schweigt zu all meinen Fragen und Anklagen in dieser Sache. Stattdessen bückt er sich und schreibt mit dem Finger in die Erde. Was er schreibt, kann ich nicht sehen. So sehr ich mich auch mühe, so gern ich es auch wüsste.

Auch die anderen, die umherstehen, versuchen wohl zu erkennen, was Jesus da schreibt. Eine Antwort auf ihre Fragen ist es offenbar nicht.

Historisch ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Steinigung wegen Ehebruchs zu Jesu Zeiten praktiziert wurde, sagen die klugen Bücher. Doch stellte Jesus sich nun gegen die Steinigung, stellte er sich gegen das vermeintliche „Gesetz des Mose“. Forderte er sie auf, dieses Gesetz zu erfüllen, ist der Konflikt mit der Besatzungsmacht der Römer unausweichlich. Nur die Römer verhängten und vollstreckten Todesurteile.

Jesus schweigt, bückt sich und schreibt irgendetwas mit dem Finger auf die Erde. Und indem alle versuchen herauszubekommen, was er da schreibt, wenden sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Blicke von der Frau weg. Hin zu Jesus.
Auf diese Weise entsteht ein Freiraum. Ein Freiraum, in dem Jesus seine Antwort geben kann. Ein Freiraum, in dem der Inhalt seiner Antwort die Angesprochenen auch erreichen kann.

Er richtet sich wieder auf und weist die Umstehenden an, die Steinigung in besonderer Weise vorzunehmen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und als Zeichen, dass er mehr dazu nicht zu sagen gedenke, bückt er sich wieder und schreibt weiter auf die Erde.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Sünde im Sinne des Johanes ist nicht einfach ein Fehltritt, schon gar kein Seitensprung. „Sünde“ beschreibt die Tatsache, dass Menschen nicht leben können, ohne sich schuldig zu machen: An Gott, ihren Nächsten, an sich selbst. Nie hat man alles Mögliche getan, nie hat man alles Falsche gelassen.

Verließ die Pfarrfrau im Film ihren Mann, weil sie sündigte, oder weil ihre Liebe keinen anderen Weg mehr zuließ? Muss man selbst in einer Beziehung an Lieblosigkeit endgültig zerbrochen sein, bevor man sie verlassen darf? Ist es nicht der letztmögliche Liebes-Weg, einen Alkohol- Suchtkranken so lange allein in der Gosse liegen zu lassen, bis er selbst so weit ist, wieder aufstehen zu wollen?

Sie gehen, sie gehen ALLE als Sündigende, die Ältesten (– die Klügsten vielleicht? –) zuerst. Jesus bleibt allein mit der Frau zurück, erstmals spricht er sie an:

Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Er fragt nicht: Nun erzähl, wie es war mit dem Ehebruch! Sondern er sagt: Geh nach Haus. Auch ich verdamme dich nicht. Und wisse: Sünde – die ist der Tod. Das Leben aber ist die Liebe bei Gott.

Sündige hinfort nicht mehr! Lass dich nicht von der Liebe Gottes trennen, lebe und liebe, dann kannst du dem Kreislauf von Sünde, Hass und Tod entrinnen.

So auch wir – lasst uns leben und lieben.
Denn die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

bewahren uns zum Leben, das ewig ist.
AMEN

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